Regine Ziegler, geboren 1864 in Schäßburg, gestorben 1925, verbrachte einen Teil ihrer Kindheit in Arkeden, wo ihr Vater, Johann Ziegler, von 1878 bis 1919 Pfarrer war. Sie schrieb Lyrik und Prosa. So wie in dieser Erzählung verarbeitete sie in ihrem dichterischen Werk gerne Kindheitseindrücke und -erfahrungen. Auf diese Weise sind auch einige Arkeder Bräuche festgehalten worden.
"In einem Dorfe des sogenannten “Haferlandes” herrschen heute noch eigenartig schöne Weihnachtsbräuche, die sich von Geschlecht zu Geschlecht vererben. Alte Fäden, die in die neue Zeit hinübergreifen und nicht zerreißen, so sehr die Gegenwart und ihre oft zersetzenden Mächte auch daran zerren. An einem Morgen der letzten Dezemberwoche halten vor der Schule auf dem Marktplatze 20 – 30 der größten Schulknaben auf ungeduldig tanzenden Pferden zum Ritt nach dem Walde, aus welchem sie das für die Weihnachtskronen in der Kirche bestimmte Wintergrün holen wollen.
Endlich sind sie alle versammelt, ein Zeichen des Vorreiters und heissah, gehts die Gasse hinauf wie die wilde Jagd in den weißschimmernden Wintertag hinein dem Walde entgegen, der hinter den letzten Wiesen hinterm Dorfe beginnt. Ein echter siebenbürgischer Wintertag, wie er Weihnachten vorangeht. Jeder Pfahl, jeder Baum hat seine weiche Schneekappe, in schöngeschwungenen Wellenlinien liegt das Feld mit seinen Höhen und Niederungen und die alten Eichen und Buchen des Kirchenwaldes stehen da wie Riesengestalten mit schneeweißen Bärten und Haaren und sehen verträumt der heranstürmenden Knabenschar entgegen. Die aber ist am Ziel, hier in feuchtem Waldgrunde gibts Wintergrün genug. Sie springen von dem Pferde, jeder bindet das seine an einen Stamm und nun wird mit steifgefrorenen Fingern das Grün aus der Schneedecke gescharrt, abgepflückt und an den schwarzen Lammfellmützen als Strauß befestigt.
Da jagen sie schon den Berg hinab, über die Heide dem Dorfe entgegen.
Wie leuchten die jungen Augen, wie brennen die Wangen von der Winterluft und wie prächtig hebt sich das ganze bewegte Bild von der weißen Schneedecke unter der blauen Himmelsglocke ab.
Mit fliegenden Mähnen und zitternden Nüstern halten die Pferde mit ihren Reitern endlich vor dem Pfarrhause und aus allen Knabenkehlen schallt ein helles schmetterndes dreimaliges “Vivat, der Herr Vater soll lang leben! Vivat, die Frau Mutter soll lang leben!” Vor dem Predigerhause dieselbe Huldigung und jetzt erst wird vor dem Schulgebäude halt gemacht.
Dort stehen die Schulmädchen bereit, nehmen das von den jungen Reitern ihnen herabgereichte Grün in Empfang und tragen es in die Schule, während die Reiterschar nach allen Seiten auseinanderstiebt, jeder dem heimischen Tore zu.
In der Schule schmücken die Mädchen nun die aus biegsamen Holzreifen zusammengestellten vier Kronen mit dem Grün, sowie mit bunten Papiersternen und gelben Wachskerzen, wie es schon ihre Urgroßmutter getan, bestimmt, in der Frühkirche des ersten Weihnachtstages der ganzen Gemeinde zu leuchten.
Es ist ein religiöses Bild, diese Mädchenschar in ihren blütenweißen Röcken, gestickten Hemden und Schürzen, in den bunten Samtleibchen, um die Köpfe ein purpurrotes oder geblümtes flatterndes Band, wie sie die duftende Arbeit des Kronenschmuckes vollführt, lachend, scherzend, über den firschen runden Gesichtern Gesundheit und Jugendlust ausgegossen.
Nun sind die vier Kronen fertig geputzt, steif und festlich stehen sie auf den Tischen vor den Mädchen, die sich nicht satt sehen können an all der Pracht.
Im Schulkeller harren sie dann des Weihnachtsmorgens, der sie zum Glanze erwecken wird.
Weihnachtsabend!
In jedem Hause duftet es nach Festtagskuchen und Hanklich, alle Arbeit ist getan, die Dämmerung naht.
In diesem und wohl auch manch anderem Sachsendorfe hat die alte Bauerneinfachheit noch nicht den Mut und das Bedürfnis gehabt, den lichtumwobenen Weihnachtsbaum in den Boden des arbeitsharten Lebens zu verpflanzen.
So ist der Weihnachtsbaum auf dem Pfarrhofe der einzige, der für sie brennt.
Um ihn schart sich alljährlich die Schuljugend. Die Erinnerung an diese Stunde aber leuchtet in jedes Einzelleben hinein bis in das späteste Alter, neubelebt durch die Freude der Kinder und Enkelschar, die dasselbe Lichtwunder in sich aufnimmt im Pfarrhause, wenn auch Formen und Menschen wechseln.
Sobald der letzte Ton der Abendglocke in der unbewegten Winterluft verhallt ist, kommt es aus allen Toren geschlüpft, Kinder in allen Größen, Knaben und Mädchen, Mütter mit den Kleinsten, die von Rechtswegen gar nicht hingehören, auf dem Arme. Alle haben sie ein Ziel: das hinter verschneiten Bäumen und Rasenplätzen mit erhellten Fenstern auftauchende Pfarrhaus.
In der großen Vorhalle stehen sie dichtgedrängt und alle Augenpaare hängen an der weißen Flügeltüre, die zur “Weihnachtsstube” führt, wo sie den Baum vermuten.
Das ist ein Stoßen und Kneifen, ein Summen und Flüstern in dem kribelnden Menschenhäufchen, wo jedes der Tür am nächsten sein möchte, wenn sie sich für das Völkchen öffnet.
Welches Entzücken fliegt über die Gesichter hin, wenn die Frau Pfarrerin plötzlich heraustritt und ein schmaler Lichtstrahl durch die Türspalte erhascht werden kann!
Endlich ertönt die Glocke drinnen, die breite Flügeltüre öffent sich wie von Zauberhand berührt - der junge Menschenstrom ergießt sich in breiter unaufhaltsamer Welle hinein.
Mitten in dem großen Zimmer steht auf dem Fußboden der Weihnachtsbaum, mit der Spitze und dem darauf flatternden Goldengel fast die Decke streifend. Ein atemloses Starren mit weitaufgerissenen Augen, ein seliges Stammeln von Kinderlippen, während die ganze Schar den Baum im Kreise einschließt, fest, dicht aneinandergereiht wie Glieder einer Kette.
Nur langsam vermögen die geblendeten Augen der schlichten Dorfkinder die Einzelheiten dieses flimmernden Weihnachtswunders in sich aufzunehmen, hier einen glänzenden Silberstern, dort ein schneeweißes Zuckerlämmchen oder den lustig schaukelnden braunen Kuchenhampelmann und die lachende, winzige Pupppe mit den echten blonden Locken auf dem Köpfchen, allzu verwirrend und überwältigend wirkt das Gesamtbild auf ihre Sinne und Gemüter.
So kommt ea auch, dass sie die mit so viel Mühe einstudierten Sprüche und Gebete nur mit halbem Bewußtsein, die Augen fortwährend selbstvergessen nach oben gerichtet, vor dem Herrn Pfarrer hersagen und sich wenig daraus machen, wenns einen oder gar mehrere Fehler gibt - ihr Empfinden ist gebunden, sodaß für die Ehre solchen Aufsagens kaum was übrig bleibt. Endlich muß aber doch ans Abschiednehmen gedacht werden, die Kerzen brennen ab und das Pfarrhaus will auch zu seiner Bescherung gelangen.
Zu beiden Seiten der Ausgangstüre stellen sich die Pfarrerstöchter auf, eine rechts, die andere links. Die lebendige Mauer, die der Baum umschloß, beginnt sich zu lockern, eines nach dem anderen schreitet zur Türe, nimmt von rechts und links aus den Händen der Pfarrerstöchter Kuchen und Nüsse in Empfang, drückt und preßt die Gaben inbrünstig an die Brust und verschwindet im Dunkel des Korridors.
Allmählich leert sich das Zimmer, die Pfarrersfamilie kann an die eigene Bescherung denken.
Aber - welche Überraschung! Ein Kranz braunschwarzer Wassertümpelchen schlingt sich um den Baum. Der in den derben Bauernstiefeln angesammelte Schnee ist in der Zimmerwärme zum Schmelze gelangt und schmückt nun in dieser Form den blankgescheuerten weihnachtlichen Fußboden der Frau Pfarrerin.
Mit dem Schlag zehn beginnt das Glockenläuten vom Turme, das eine Stunde dauert.
Bald darauf tauchen aus dem Dunkel der Nacht lose Männergestalten auf mit blitzenden Trompeten, Klarinetten und Posaunen in den Händen, denen mehrere Fackeln tragende Knaben voranschreiten.
Im Pfarrhofe, unter der seitlichen Fensterfront machen sie Halt und stellen sich auf, um dem Pfarrer das Weihnachtsständchen darzubringen.
Wie die Gestalten mit den braunroten Gesichtern über der Schneedecke emporwachsen und das Dunkel beleben, wie aus dem schwarzroten Fackelschein die funkelnden Instrumente aufleuchten, die hellen, erwartungsfrohen Kinderaugen aufblitzen, wenn die ersten Klänge des schönen Liedes: "Stille Nacht, heilige Nacht" die unbewegte Luft durchzittern und zuletzt zu tiefen, die ganze Gasse durchbrausenden Akkorden werden. Das ist ein Eindruck, wie er sich unverlierbar in die Seele schreibt. Eine Weihe, eine in ihrer Schlichtheit und Einfachheit unüberwindbare Größe liegt über dieser Stunde, in der Inneres und Äußeres, Form und Inhalt so eins geworden sind, daß sogar jene unvermeidlichen Dissonanzen, die die Harmonie des Ganzen durchzucken, schwer vermißt wurden, wenn sie einmal fehlten. Denn sie gehören zur echten Bauernmusik, dem großen Wollen und schwächeren Können der Ausübenden, die solche Kunst der Arbeitszeit abringen müssen - sie ziehen die charakteristischen Linien und Umrissse des ganzen Bildes.
Der Weihnachtsmorgen naht.
Grauweiße Nebel hängen am Himmel, das Frührot hat kaum den ersten Hauch darüber gestrichen und schon ist hinter allen Fenstern Lichtschein aufgetaucht - man rüstet zur Frühkirche. Vermummte Gestalten gleiten aus allen Toren, Kinder, Erwachsene, hohe Männergestalten, gebückte Greise - alles strebt dem steinernen Portale und dem dahinter liegenden Gotteshause zu.
Mit dem letzten Glockenklang ist jeder Platz in der Kirche besetzt. Der Gemeindegesang leitet die Feier ein, seine Schallwellen erfüllen das Gotteshaus bis in den letzten Winkel.
Beim Beginne des letzten Verses bewegen sich die vier Knabenpaare mit den, von brennenden Wachslichtern beleuchteten Kronen von der Orgel, wo sie bis dahin gestanden, herab, schreiten die Kirche entlang, dem Altar zu, wo sie auf den beiden letzten Stufen je zwei zu zwei Aufstellung nehmen. Die Vorderstufen füllen sich mit den anderen Knaben und sämtlichen Schulmädchen bis tief hinein zum Gestühl der Presbyter und der Burschenschaft in der ehemaligen Sakristei.
Und nun singt die Kinderschar unter Führung des Lehrers das uralte lateinische Lied: "Quem pastores laudavere, (Denn die Hirten lobten sehr etc."), hell, schmetternd, mit breitwogender Brust, daß es ist, als führen sieghafte Fanfarentöne über die lauschende Gemeinde hin und wieder ernst, mystisch, voll des heiligen Weihnachtstaumels, gleich einer in Klang umgewandelten alten Legende, die mit zartem und doch unabweisbarem Finger an alle Herzenstore klopft, selbst die allerverschlossensten. Das ist ein Flimmern in solcher Frühkirche, ein Glanz, ein Farbenzauber, wenn durch die schmalen Bogenfenster das Morgenlicht hereinzuleuchten beginnt, sich mit dem Kerzenglanz und seinem mattroten Flackerschein mischt, die erregten Kinderköpfe streift, über das schwarze Samtgestühl des Pfarrers zittert und erst stille hält, wenn es jede Altersfalte, jede Arbeitsfurche in den Bauerngesichtern gestreichelt, all die dunkeln Frauenmäntel, blauweißen Kopftücher, mattgelben Männerpelze bis hinauf zu den alten Nachbarschaftsfahnen und dem darunter sitzenden Organisten mit seinem Schimmer übersponnen hat - dann ist es Tag geworden!
Langsam lösen sich die Frauen- und Kindergestalten aus dem lichterfüllten Raume und verschwinden durch die Türe in den Wintermorgen wie ein Märchenbild, dessen Zauber noch auf allen Gemütern liegt, wenn es längst in Duft zerfloß. Auf der Welle von Luft und Wärme, die jenes Frauen- und Kinderbild zurückließ, erhebt sich zum Schluß des Pfarrers Weihnachtsgebet, das in jedem Herzen seinen Erlöser erweckt, den es ersehnt das ganze harte Arbeitsjahr hindurch, den es aus dem Glanz und den Andachtsschauern dieser Stunde in sich erlebt, dem es sich hingibt in seliger Demut.
Unveränderte Abschrift aus: Die Karpathen, 2. Jg. (1908), Nr. 6, S. 164 - 167